Mit „Vergeltung“, dem zweiten Teil ihrer geplanten Trilogie, setzt Karin Smirnoff ihre Fortführung der von Stieg Larsson geschaffenen Millennium-Reihe fort. Bereits der Auftaktband „Verderben“ war in Schweden ein Nr.-1-Bestseller. Dabei hat die Autorin eine große Herausforderung angenommen, denn die ersten drei Bände von Stieg Larsson wurden zu Weltbestsellern, die nächsten drei von David Lagercrantz waren noch gut sehr gut und spannend.
Vergeltung: Achter Band der Reihe
Der jetzt achte Band der Reihe ist, gerade was die Hauptfiguren Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist angeht, anders und Larsson-Fans könnten enttäuscht sein. Denn die zentralen Charaktere haben unter Smirnoffs Federführung eine deutliche Veränderung erfahren. Es gelingt ihr dabei, den bekannten Figuren neue Facetten abzugewinnen: Lisbeth, einst die toughe und unerschütterliche Hackerin, wirkt in „Vergeltung“ weniger charismatisch. Zwar setzt sie sich wie gewohnt für Schwächere ein, doch ihre scharfsinnige, kompromisslose Art scheint gedämpft, ihr fehlt die Energie, die sie einst auszeichnete. Mikael Blomkvist, der ambitionierte Journalist der vorherigen Bücher, steckt in einer persönlichen und beruflichen Sackgasse fest. Die Interaktion zwischen Blomkvist und Salander, ein Highlight der ursprünglichen Millennium-Trilogie, ist ziemlich reduziert.
Explosives Finale
Die Geschichte spielt erneut in der kleinen Stadt Gasskas im Norden Schwedens, wo eine Explosion die Brücke zerstört, die früher für den Transport geförderten Erzes genutzt wurde. Diese Szene markiert den Auftakt zu einem Konflikt um die Ausbeutung von Bodenschätzen. Eine skrupellose Investorengruppe arbeitet daran, den stillgelegten Tagebau zu reaktivieren, um Rohstoffe unter dem Deckmantel von Nachhaltigkeit zu fördern. Der Widerstand gegen dieses Projekt wächst: Eine Gruppe von Umweltaktivisten, der auch Lisbeth Salanders 14-jährige Nichte Svala angehört, will die Pläne unbedingt verhindern. Svala gerät in Gefahr, und Lisbeth Salander wird gezwungen, einzugreifen. Parallel dazu ist Salander auf der Suche nach ihrem Hacker-Freund Plague, der wie vom Erdboden verschwunden scheint. Ihre Nachforschungen führen sie auf die Spur eines Netzwerks krimineller Organisationen, die sich zunehmend in der Region ausbreiten.
Mikael Blomkvist, der sich mittlerweile mit seiner Arbeit bei einer lokalen Zeitung arrangiert hat, beginnt eigene Recherchen zu den fragwürdigen Aktivitäten der Investoren. Die Handlungsstränge verweben sich zu einem explosiven Finale, in dem persönliche und gesellschaftliche Konflikte aufeinandertreffen.
Smirnoffs Sprache: scharf wie ein Messer
Karin Smirnoff gehört zu den bedeutendsten Stimmen der modernen schwedischen Literatur. Ihre Jana-Kippo-Trilogie wurde nicht nur von der Kritik gefeiert, sondern erreichte auch ein breites Publikum. Ihr Schreibstil ist auch in diesem Buch unverkennbar: minimalistisch, direkt und doch gleichzeitig fast poetisch. Ihre kurzen Sätze und schnelle Szenenwechsel verleihen dem Text eine Dynamik, die hervorragend zu den düsteren Themen passt. Die Sprache ist scharf wie ein Messer und bringt die Psyche der Figuren gut hervor. Besonders beeindruckend ist ihre Fähigkeit, die raue Schönheit der schwedischen Landschaft in Worte zu fassen, sie wird zum Spiegel der emotionalen Zustände ihrer Figuren.
„Vergeltung“ greift wichtige gesellschaftliche Themen wie Umweltzerstörung, Greenwashing und Widerstand gegen industrielle Ausbeutung auf. Die Verknüpfung dieser Themen mit den persönlichen Geschichten der Protagonisten verleiht dem Thriller Tiefe. Wem es gelingt, sich von den Larsson-Bänden zu lösen und sich auf neue Facetten bei den Hauptfiguren einzulassen, wird einen gut geschriebenen Krimi genießen können.
Ingo Thiel
Vergeltung
Karin Smirnoff
Heyne Verlag
Hardcover, mit Schutzumschlag, 432 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3453274525
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