Oktober 18, 2025

Gerächt sein sollst Du

Buchkritik / Rezension „Gerächt sein sollst Du“, Kaisu Tuokko, Aufbau Verlag. Stimmungsstarker, feinfühliger Kriminalroman

Oktober 18, 2025

In „Gerächt sein sollst Du“ entwirft die finnische Autorin Kaisu Tuokko ein atmosphärisch dichtes Bild einer Kleinstadt, deren scheinbar friedliche Idylle trügt. Im finnischen Küstenort Kristinestad wird eines Morgens die Leiche des siebzehnjährigen Jonas entdeckt, tragischer Unfall oder Suizid lauten die ersten Hypothesen. Doch schnell wird klar, dass mehr dahintersteckt: Es war Mord. Die Journalistin Eevi Manner beginnt auf eigene Faust zu recherchieren. Parallel dazu nimmt Kriminalkommissar Mats Bergholm die Ermittlungen auf. Eevi und Mats teilen eine gemeinsame Vergangenheit einer Jugendliebe, was ihre professionelle Zusammenarbeit zugleich bereichert und belastet. Gemeinsam versuchen sie, das Netz aus Lügen, Schweigen und Geheimnissen zu entwirren, welches sich um Jonas‘ Tod und sein Umfeld gelegt hat.

Autorin Kaisu Tuokko, geboren und aufgewachsen in Kristinestad, lebt heute in Helsinki. Sie ist eine neue, vielversprechende Stimme im nordischen Krimigenre. Ihr Debütroman zeigt nicht nur ihre Verbundenheit mit ihrer Heimatregion, sondern auch ihre Fähigkeit, die vertraute Umgebung mit psychologischer Tiefe und atmosphärischer Spannung aufzuladen. Tuokko interessiert sich besonders für die dunklen Seiten des Menschlichen. Für das, was Menschen in sich verbergen, selbst inmitten scheinbar intakter Gemeinschaften. Und genau das spiegelt sich in ihrem Schreibstil wider.

Die Sprache des Romans ist klar und ruhig, fast zurückhaltend, doch zugleich eindringlich. Tuokko legt großen Wert auf Stimmungen: Das Meer, die Schärenküste, die Weite des Himmels, aber auch die Enge der sozialen Verhältnisse in einer Kleinstadt, all das wird mit sicherer Hand beschrieben und schafft eine Kulisse, die mehr als nur Hintergrund ist. Die beschriebene melancholische Schönheit der Landschaft kontrastiert wirkungsvoll mit der Brutalität des Verbrechens. Die Handlung entwickelt sich eher langsam, fast bedächtig, was aber keineswegs zu Lasten der Spannung geht. Der Roman verzichtet auf übertriebene Action, setzt dafür aber auf leise Töne, Andeutungen und das schrittweise Freilegen von Widersprüchen.

Besonderes Merkmal ist die mehrperspektivische Erzählweise: Neben der Haupthandlung um Eevi und Mats finden sich Tagebucheinträge, Rückblenden und Szenen aus Sicht anderer Beteiligter, die die Ereignisse um Jonas Stück für Stück in ein neues Licht rücken. Dadurch bleibt der Kriminalfall lange undurchsichtig. Jede Figur scheint eine Rolle zu spielen, jede Information könnte entscheidend sein, aber nichts ist so, wie es zunächst scheint. Das Setting in Kristinestad ist mehr als bloß Kulisse. Die Stadt mit malerischer Küstenlage, Holzhäusern und engen Gemeinschaften steht sinnbildlich für eine Welt, die in sich geschlossen ist. Schön anzuschauen von außen, aber voller unausgesprochener Wahrheiten. Der Mord an Jonas bringt viel zum Vorschein: soziale Missstände, familiäre Konflikte, verdrängte Schuld, Schweigen aus Angst oder Scham. Die gesellschaftliche Relevanz, die sich durch Themen wie Mobbing, Außenseiterrollen, Gruppenzwang und soziale Medien ergibt, verleiht dem Roman Tiefe. Besonders erschütternd ist dabei die Darstellung der Mechanismen, die Jugendliche wie Jonas in die Isolation treiben.

 

Die Figuren sind komplex und glaubwürdig gezeichnet. Eevi Manner, die Journalistin, ist keine klassische Heldin. Sie ist reflektiert, engagiert, manchmal zögerlich und in persönlichen Fragen verletzlich. Auch Ermittler Mats Bergholm ist ein ruhiger Charakter, ein nachdenklicher, sensibler Mann. Jonas wird im Verlauf der Geschichte zunehmend plastischer. Nach und nach entsteht ein Bild von einem Jungen, der anders war, der aneckte, der mit sich selbst kämpfte und dessen Geschichte weit mehr Fragen aufwirft, als man zunächst glauben möchte. Sein Umfeld trägt mit widersprüchlichen Aussagen und Verhalten zur Spannung bei.

 

Die Stärke des Romans liegt in seiner Atmosphäre und der gelungenen Verbindung von sozialer Beobachtung und psychologischem Krimi. Man spürt, dass Tuokko weiß, worüber sie schreibt. Nicht nur was den Ort betrifft, sondern auch die zwischenmenschlichen Dynamiken. Insgesamt ist „Gerächt sein sollst Du“ ein stimmungsstarker, feinfühliger Kriminalroman, der das Genre des „Nordic Noir“ nicht durch übertriebene Brutalität, sondern durch psychologische Glaubwürdigkeit bereichert. Tuokkos Debüt überzeugt durch Figuren mit Ecken und Kanten, ein atmosphärisches Setting und einen ernsthaften Umgang mit gesellschaftlich relevanten Themen.

Gerächt sein sollst Du

Kaisu Tuokko

Aufbau Verlag

Taschenbuch mit Farbschnitt, 334 Seiten, 16 Euro

ISBN: ‎ 978-3746642086

https://www.aufbau-verlage.de/aufbau-taschenbuch/geracht-sein-sollst-du/978-3-7466-4208-6

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